Zweite BP-Gesellschaftsstudie: Sprachlose Elite? Wie Unternehmer Politik und Gesellschaft sehen

Zweite BP-Gesellschaftsstudie: Sprachlose Elite? Wie Unternehmer Politik und Gesellschaft sehen
 

Wie tickt Deutschlands Wirtschaftselite? Diese Frage stand im
Mittelpunkt der zweiten BP-Gesellschaftsstudie von Prof. Franz Walter
und Dr. Stine Marg, die heute vor der Bundespressekonferenz in Berlin
vorgestellt wurde. In der von der BP Europa SE geförderten Studie
befragte das Forscherteam in 160 Interviews Gesellschafter,
Vorstände, Geschäftsführer und Unternehmer zu deren Werten,
Selbstwahrnehmung und Blick auf Gesellschaft und Politik sowie zur
persönlichen Biografie. Denn obwohl Spitzenmanager als
Verantwortliche für tausende Arbeitsplätze und Milliardenumsätze eine
zentrale gesellschaftliche Bedeutung haben, ist über ihr Weltbild und
Selbstverständnis wenig bekannt.

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung der ersten
BP-Gesellschaftsstudie über die Motive von Protestbewegungen („Die
neue Macht der Bürger“, Rowohlt 2013) liefert das Forscherteam des
Göttinger Instituts für Demokratieforschung um Franz Walter damit die
Fortsetzung der Analyse gesellschaftlicher Akteure. Michael Schmidt,
Vorstandsvorsitzender der BP Europa SE, sieht in der Studie eine
Chance, die Dialogfähigkeit in Deutschland zu stärken. „Nach wie vor
sprechen gesellschaftliche Gruppen zu oft übereinander statt
miteinander und verlassen sich zu sehr auf das eigene Vorverständnis,
anstatt sich mit dem Gegenüber wirklich auseinanderzusetzen. Die neue
Studie soll einen Beitrag dazu leisten, vorherrschende Einschätzungen
über Unternehmer zu überprüfen, zu ergänzen und möglicherweise auch
zu korrigieren.“

Neben persönlichen Werdegängen und individuellen Wertvorstellungen
wurden die Ansichten der Unternehmer zu wirtschaftlichen
Entwicklungen, Politik und Gesellschaft detailliert untersucht.

Franz Walter und Stine Marg, die wissenschaftlichen Leiter der
Studie, fassten einige wichtige Erkenntnisse des Göttinger Instituts
für Demokratieforschung wie folgt zusammen:

– Die Unternehmer in Deutschland haben aktuell von der
marktradikalen Rhetorik aus der Zeit vor 2008 behutsam Abstand
genommen. Die wirtschaftlichen Einbrüche und schweren Turbulenzen auf
den Finanzmärkten besonders, in den Musterländern des
Neoliberalismus, scheinen zu einer zumindest moderaten Aussöhnung von
Unternehmern hierzulande mit dem christ- wie sozialdemokratisch
eingefärbten Sozialstaatsmodell des „Rheinischen Kapitalismus“
geführt zu haben.

– Sozialdemokraten und Gewerkschafter werden nicht mehr als
bedrohliche Feinde im Lager der Unternehmer empfunden. Gerhard
Schröder und seine Agenda 2010 gelten vielmehr als Vorbilder
außergewöhnlichen politischen Muts. Und den Gewerkschaften hält man
zugute, die Bedeutung der industriellen Produktion für den
gesellschaftlichen Wohlstand zu erkennen, was für viele soziale und
politische Kräfte ansonsten bedauerlicherweise nicht mehr zuträfe.

– Auffällig ist das verbreitete Gefühl zahlreicher
Wirtschaftsbürger, politisch keine Heimat mehr in der Bundesrepublik
zu besitzen. Trotz aller Unzufriedenheit mit dem oft unseriösen
Auftritt der FDP in der Ära Westerwelle bedauern zahlreiche
Unternehmer, dass die Liberalen nicht mehr im Deutschen Bundestag
vertreten sind. Mit Argwohn verfolgen viele den
„sozialdemokratischen“ Kurs der CDU/CSU in der Großen Koalition.
Verbreitet ist die Kritik an der politischen Unschärfe und
programmatischen Indifferenz der Bundeskanzlerin Angela Merkel.

– Bemerkenswert und für die sog. vierte Gewalt alarmierend ist die
an Schärfe kaum zu überbietende Klage des Gros der deutschen
Unternehmer über die Medien im Land. Bitterkeiten über die
„skandalisierende“ und „pauschalisierende“ Berichterstattung – den
„Hetzjagden“ – in den Medien bilden somit kein Spezifikum
verängstigter und populistisch aufgewiegelter „Wutbürger“ in von
Abstiegsängsten geschüttelten Mittelschichten (des ostsächsischen
Raums), sondern sind ebenso massiv im Sektor der wirtschaftlichen
Eliten Deutschlands verbreitet.

– Auch findet man unter den wirtschaftlichen Führungskräften ein
beträchtliches Unbehagen am Prozess der Willensbildung in unserer
parlamentarischen Demokratie. Vieles dauert ihnen zu lange, ist zu
sehr auf schlechte Kompromisse ausgerichtet, zu wenig am
(vermeintlichen) Optimum „sachrationaler“ Erfordernisse bemessen.
Doch ist dem Gros der Wirtschaftskapitäne das repräsentative System
weit lieber als eine Referendumsdemokratie. Denn direktdemokratische
Verfahren nähren nach Auffassung von Unternehmern die Irrationalität
und Sprunghaftigkeit der in der Regel nicht hinreichend kompetenten
Massen. Unternehmer stehen der Volkssouveränität als primäre
Legitimationsquelle moderner demokratischer Ordnungen überwiegend mit
Skepsis gegenüber. Wichtig dagegen ist ihnen der Rechtsstaat, da er
der Wirtschaft berechenbare Grundlagen und Rahmenbedingungen
garantiert.

– Totalitäre Diktaturen bedeutet demgegenüber Willkür. Schon aus
diesem Grunde sind Unternehmer, im Unterschied zu den frühen
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, keine Freunde solcher Systeme. Doch
fürchten nicht wenige, dass etwa China, aufgrund der autoritativen
Möglichkeiten rascher und stringenter politischer Entscheidungen, in
der Konkurrenz mit den politisch eher trägen Demokratien in Zukunft
die Nase vorn haben könnte. Im Blick auf China dokumentieren sich in
den Auskünften zahlreicher Unternehmer Distanz und Faszination,
Ablehnung und Neugierde zugleich. Sollten nicht-demokratische
Gesellschaften eine anhaltend größere wirtschaftliche Dynamik
entfalten als die Demokratien im Westen, wäre eine emphatische
Diskussion über einen modernen Kapitalismus mit weniger Demokratie
bei allerdings stabiler und auch transnational konstituierter
Rechtsstaatlichkeit gewiss nicht ausgeschlossen.

– Unternehmer sind mehrheitlich keine Freunde von
Geschlechterquoten. Das gilt im Übrigen für männliche wie weibliche
Führungskräfte in der Wirtschaft gleichermaßen. Ebenfalls auf wenig
Sympathie stößt bei ihnen die Rentenpolitik des Kabinetts Merkel –
Gabriel. Hingegen löst der Mindestlohn bei den Chefs großer
Unternehmen keine Emotion negativer Art aus, während in kleineren
Familienunternehmen dieses Projekt aus dem Hause von Andrea Nahles
auf sehr viel weniger Gegenliebe stößt.

– Die oft unterstellte Internationalität der Unternehmer ist
keineswegs so stark ausgeprägt, wie sie in vielen Selbstdarstellungen
propagiert wird. Bei den meisten fielen die Auslandsaufenthalte
biografisch lediglich knapp limitiert, eher episodisch aus. Nicht
internationale Mobilität, sondern betriebliche Verwurzelungen, Treue
und Loyalität begünstigen weiterhin ganz überwiegend die Karriere.

– Vorbei scheint die Phase der Industriegeschichte zu sein, in der
ursprüngliche soziale oder kulturelle Benachteiligungen eine
Triebfeder für die individuellen Anstrengungen des Aufstiegs an die
Spitze von Unternehmen bildete. Die ökonomischen Eliten erzählen in
ihrer großen Majorität von intakten Lebensgeschichten ohne
gravierende Brüche und Widerstände. Innerhalb des Lagers des
deutschen Wirtschaftsbürgertums scheint das derzeit zumindest bei
Teilen zu der Sorge zu führen, dass dem Führungsnachwuchs elementare
Energien und auch Härten in künftigen Zeiten schroffer Konflikte
fehlen mögen.

Forschungsdesign und Methodik

Im Rahmen der Studie führte ein neunköpfiges Forscherteam zwischen
September 2013 und August 2014 160 teilstrukturierte Einzelinterviews
und drei moderierte Fokusgruppen mit Managern durch. Darunter waren
Konzernlenker, Geschäftsführer von Familienunternehmen oder
mittelständischen Betrieben. Unter den Befragten befanden sich Männer
und Frauen, Vertreter aller Branchen sowie alle Altersklassen vom
30-jährigen Jungunternehmer bis zum 70-jährigen
Vorstandsvorsitzenden. Es konnten mit der sonst zurückhaltenden
Wirtschaftselite sehr offene Gespräche gelingen, da die
Interviewpartner im Rahmen der Studie nicht bekannt gegeben und die
Gespräche anonym ausgewertet werden. Für die Analyse der Interviews
und Fokusgruppen wurden zusätzlich Experteninterviews mit
Wirtschaftspolitikern oder Verbandsvertretern, Forschungsliteratur
und Reportagen herangezogen.

Die Studie wurde gefördert von der BP Europa SE. Die Studie ist ab
27. März 2015 im Buchhandel erhältlich. Franz Walter / Stine Marg
(Hg.) „Sprachlose Elite? Wie Unternehmer Politik und Gesellschaft
sehen“ Rowohlt Hardcover, 352 Seiten, 16,95 EUR, ISBN:
978-3-498-042134

Hinweis für Radio- und Onlineredaktionen:

Mit unserer Pressemitteilung erhalten Sie ein Interview sowie
O-Töne von Dr. Stine Marg vom Göttinger Institut für
Demokratieforschung zu Ihrer Verwendung. Darin fasst die
Mitherausgeberin der 2. BP-Gesellschaftsstudie die Kernergebnisse der
Untersuchung zusammen. Alle Audiodateien stehen in höherer Qualität
unter folgendem Link zum Download für Sie bereit:
http://bp-dateiserver.de/downloads/bp_studie_audio.zip

Rückfragen bei:

Britta Kopfer – BP Europa SE,
Tel: +49 (0) 234 315 5362

Stine Marg – Göttinger Institut für Demokratieforschung,
Tel: +49 (0) 551 391 70116

Nora Gottschalk – Rowohlt Verlag
Tel: +49 (0) 40 727 2359