Weser-Kurier: Der „Weser-Kurier“ (Bremen) kommentiert in seiner Ausgabe vom 3. August 2010 den Kita-Erlass in Mecklenburg-Vorpommern zur Abwehr des Rechtsextremismus:

Radikalen-Erlass 2.0

von Joerg Helge Wagner Haben die „neuen“ Bundesländer ein
Neonazi-Problem? Sicher. Auch in Mecklenburg-Vorpommern sitzt die NPD
seit fast vier Jahren im Landtag; in manchen Wahlkreisen erreichte
sie locker zweistellige Ergebnisse. Ist es eine neue Strategie der
Rechtsextremen, auch über soziales Engagement ihr Gedankengut zu
verbreiten? Nein – es ist eine Strategie, die sie bereits seit Jahren
verfolgen und für die vor allem weibliche Mitglieder oder
Sympathisanten eingespannt werden. Wird diese Strategie auch von
anderen Extremisten angewandt? Ja – Linksextremisten werben damit
ebenso in sozialen Brennpunkten wie Islamisten in den abgeschotteten
Migranten-Milieus. Sind kleine Kinder für Infiltration mit radikalem
Gedankengut besonders anfällig? Natürlich – sie können zwar sehr
ausdauernd „Warum?“ fragen, aber selbstverständlich noch nicht
kritisch reflektieren. So gesehen, kann man gegen den seit gestern
geltenden Erlass der Schweriner Sozialministerin Manuela Schwesig
nichts einwenden: Wer künftig in Mecklenburg-Vorpommern eine
Kindertagesstätte betreiben will, muss schriftlich versichern, sich
„jederzeit durch sein gesamtes Verhalten zur freiheitlich
demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes zu bekennen“.
Das lässt keinen Spielraum für braune Agitation und es ist
einklagbar: Bei Verstößen erlöscht die Betriebserlaubnis für die
Kita. Der demokratische Staat zeigt angesichts einer realen Bedrohung
Zähne. Das ist gut so. Erst recht, wenn man damit schon gute
Erfahrungen gemacht hat. Schwesig setzt ja nur konsequent fort, was
der frühere CDU-Innenminister Lorenz Caffier 2007 begonnen hatte, als
er Kandidaten für Bürgermeister- und Landratsämter entsprechende
Selbstauskünfte abverlangte. Seither scheiterten NPD-Mitglieder
mehrfach beim Versuch, als Bürgermeister eine Gemeinde zu kapern.
Selbstverpflichtung statt Überprüfung durch den Verfassungsschutz –
auf den ersten Blick scheint das Verfahren in Mecklenburg-Vorpommern
„weicher“ zu sein als der „Extremistenbeschluss“, den die
Regierungschefs der Länder 1972 unter Vorsitz von Bundeskanzler Willy
Brandt fassten. Tatsächlich geht er jedoch viel weiter, weil er
längst nicht nur Beamte sowie Angestellte und Arbeiter des
Öffentlichen Dienstes betrifft. Das systematische Abfragen der
politischen Gesinnung bei Menschen, die sich privat sozial engagieren
wollen, ist in Wahrheit ein sehr, sehr weit reichender Schritt. Zu
rechtfertigen ist er in einer Demokratie allein, wenn echte Gefahr
droht. Das mag man in Mecklenburg-Vorpommern und auch in anderen
Bundesländern zugestehen. Man muss bloß aufpassen, dass man es mit
der Gefahrenabwehr nicht wie in den 70er Jahren übertreibt, als
Briefträger bereits um ihren Job bangen mussten, wenn sie mal ein
DKP-Fest besucht hatten. Da berührt es schon unangenehm, wenn
ausgerechnet Mecklenburgs Grüne nun fordern, den Kita-Erlass
schleunigst auch auf Jugendclubs, Sportvereine und Jugendfeuerwehren
auszudehnen. So stellt Politik das Volk unter Generalverdacht.
Abgesehen davon ist auch Schwesigs Kita-Erlass kein Allheilmittel
gegen extremistische Unterwanderung. Schließlich gibt es Kinder aus
offen rechtsextremistischen Familien, die längst bestehende Kitas
besuchen. Also muss die Ministerin auch Konzepte entwickeln, die den
Erzieherinnen helfen, mit dieser Klientel umzugehen. Und sie sollte
dabei im Auge behalten, dass Extremismus – siehe oben – eben nicht
bloß braun daher kommt. joerg-helge.wagner@weser-kurier.de

Pressekontakt:
Weser-Kurier
Produzierender Chefredakteur
Telefon: +49(0)421 3671 3200
chefredaktion@Weser-Kurier.de