Weser-Kurier: Der „Weser-Kurier“ (Bremen) kommentiert in seiner Ausgabe vom 27. Oktober 2010 den Bericht der Weise-Kommission zur Reform der Bundeswehr:

Die Chance zum Schnitt

von Joerg Helge Wagner Die Bundeswehr ist bei der Musterung
durchgefallen: T5, untauglich! Einen anderen Schluss lassen der
Bericht der Weise-Kommission und deren Empfehlungen nicht zu.
Offenbar wurde über Jahrzehnte der zweitgrößte Einzeletat des
Bundeshaushalts verpulvert für eine aufgeblähte Bürokratie mit
unzähligen Doppelstrukturen, die der Truppe eine möglichst teure und
allzu oft kaum brauchbare Ausrüstung bescherte. Diese Missstände
waren keineswegs „streng vertraulich“, sondern offensichtlich: Die
Weizsäcker-Kommission beklagte sie schon vor zehn Jahren, damals hieß
der Verteidigungsminister Scharping. Das war nicht der erste
alarmierende Befund. Unmittelbar vor der deutschen Wiedervereinigung
bastelte man an der „Heeresstruktur 2000“, um die größte
Teilstreitkraft attraktiver zu machen und so überhaupt erst auf
Sollstärke bei den Offizieren und Unteroffizieren zu bringen. 400
Millionen Mark wollte der damalige Verteidigungsminister Stoltenberg
dafür in die Hand nehmen. Fünf Jahre später schlug Generalinspekteur
Naumann seinem Minister Rühe vor, die Truppe zu reduzieren, um ihre
Modernisierung zu gewährleisten. Damals dienten in der Bundeswehr
noch 370000 Soldaten, die aber nicht in der Lage waren, ein paar
deutsche Geiseln in Ruanda aus den Händen von Marodeuren zu befreien.
Mittlerweile ist die Truppe auf gut 250000 Köpfe geschrumpft,
kann aber wenigstens ihre Bündnisverpflichtungen erfüllen. Erfüllen?
Na ja, sie kann in Afghanistan mit 4500 Soldaten Flagge zeigen – aber
auch nur, wenn hinter jedem einzelnen 35 Kameraden in der Heimat und
15 weitere Zivilkräfte stehen. Der amtierende Verteidigungsminister
zu Guttenberg hat diesen Wahnsinn schnell erkannt und – eine
Kommission einberufen. Doch dieses Mal besteht eine echte Chance, die
Chronique Scandaleuse zu beenden. Erstens ist die Kommission schon
so, wie die Bundeswehr werden muss: schlank, effizient, kompetent.
Zweitens lässt der Spardruck den bisherigen Schlendrian nicht länger
zu. Drittens wächst der internationale Druck, endlich ernsthafte
Sicherheitspolitik zu betreiben – wenn man schon auf Dauer im
Weltsicherheitsrat mitreden will. Viertens hat Guttenberg mehr
Rückhalt als alle seine Vorgänger – und er weiß, dass sich ihm eine
historische Chance bietet. Nun muss er das Vordringliche vom
Nachrangigen unterscheiden. Den Wildwuchs an Stäben beschneiden?
Unbedingt! Den Sanitätsdienst in die Streitkräftebasis eingliedern?
Überfällig! 15-monatiger Freiwilligendienst statt sechsmonatiger
Wehrpflicht? So schnell wie möglich! Lieber ein aufgewerteter
Generalinspekteur als zwei Staatssekretäre? Na klar!
Rüstungsbeschaffung „von der Stange“ statt aufwändiger
Eigenentwicklung? Natürlich! Selbst wenn man das an den Standorten
von EADS/Airbus, Krauss-Maffei Wegmann und diversen Werften nicht
gerne hört: Auch und gerade bei der Ausrüstung muss die Bundeswehr
„vom Einsatz her denken“, also rasch bewährtes und verlässliches
Material in ausreichender Menge erhalten. Reine Strukturpolitik auf
Kosten der Soldaten im Einsatz ist nicht nur unverantwortlich,
sondern zynisch. Guttenberg kann jetzt das Messer ansetzen und die
Schnitte ausführen. Dazu muss er seine Generäle und Beamten aber
mitnehmen. Unklug wäre es, sich jetzt auf einem Nebenkriegsschauplatz
zu verzetteln. Sicherlich ist es auch sinnvoll, das Ministerium
endlich komplett von Bonn nach Berlin zu verlegen – aber der Hausherr
darf für dieses Ziel nicht die anderen aufs Spiel setzen. Beim
Berlin-Gesetz geht es schließlich nicht um Leben und Tod.
joerg-helge.wagner@weser-kurier.de

Pressekontakt:
Weser-Kurier
Produzierender Chefredakteur
Telefon: +49(0)421 3671 3200
chefredaktion@Weser-Kurier.de