WAZ: So ist Russland – Kommentar von Gudrun Büscher

Es wird wohl etwas dauern, bis die hunderte Seiten
lange Urteilsbegründung im Fall Chodorkowski verlesen ist. Erst dann
wird Russlands berühmtester Häftling erfahren, wie lange er noch im
Gefängnis schmoren muss. Dass er schuldig ist, hatte Russlands
Premier Putin ja längst festgestellt: „Diebe gehören ins Gefängnis!“
Chodorkowski ist kein Unschuldslamm. Er gehörte nicht nur zu den
Gewinnern der rabiaten Verteilungskämpfe, die nach dem Zusammenbruch
des kommunistischen Systems einsetzten. Er war der erfolgreichste
Glücksritter. Alles lief wie geschmiert, bis er sich 2003 mit Putin
und seinem Imperium anlegte. Doch Chodorkowski taugt nicht als Symbol
für Freiheit und Menschenrechte. Er steht vielmehr für den Zustand
Russlands. Dort gilt das Recht der Stärkeren, große Teile der Justiz
arbeiten als Handlanger politischer und wirtschaftlicher Interessen.
US-Präsident Obama mag die Vorwürfe gegen Chodorkowski „seltsam“
finden. Die meisten Russen haben keine Illusionen mehr. Für sie
gehören Korruption, Kriminalität und Behördenwillkür zum Alltag. Und
der ist für alle, die nicht zum regierungsfreundlichen und
Oligarchenkreis gehören, bitter genug.

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