Herzlichen Glückwunsch, Deutschland. Während gerade
die zweite verlorene Generation von Migrantenkindern unsere
Hauptschulen verlässt und wenige Jahre, bevor der Fachkräftemangel
unsere Wirtschaft zu lähmen droht, haben wir erkannt, dass es nicht
so gut ist, zehntausende Kinder durchrasseln zu lassen. Immerhin.
Doch was sind die Antworten? Wir diskutieren zum xten Mal über unser
Schulsystem, über zwei Jahre mehr oder weniger gemeinsames Lernen.
Und dann wird alles gut?
Die Politik stellt gern die Systemfrage, sie kostet nichts. Ganz
im Gegenteil zu dem, was eigentlich vonnöten wäre: kleinere Klassen,
besser ausgebildete Lehrer, vor allem aber – eine echte Vorschule.
Wer sagt denn, dass längeres gemeinsames Lernen in den Klassen eins
bis sechs stattfinden muss? Wäre der Chancengleichheit für Kinder aus
bildungsfernen Schichten nicht eher gedient, wenn man sie zwei Jahre
gezielt auf die Grundschule vorbereitet?
Dafür spricht vieles: Ein Kind, dem nie vorgelesen wurde und das
seine ersten Stifte mit der Schultüte bekommt, hinkt vom ersten Tag
an hinterher. Wenn seine Eltern nicht in der Lage oder willens sind,
Nachhilfe zu bezahlen, werden sie den Anschluss kaum schaffen. Nicht
nach vier und nicht nach sechs Jahren. Wenn es die Eltern nicht tun,
muss ihnen die Erzieherin Alphabet und Zahlen beibringen – nach
festem Lehrplan.
Dies ist die eigentliche Systemfrage, denn sie geht an die
Fundamente der Bildungsmisere. Dass sich Grundschulen in
Problembezirken schon heute als Reparaturbetriebe fühlen, müsste doch
auch den letzten Politiker darauf bringen, dass eine echte Reform vor
der Einschulung ansetzen muss. Darin sind sich Pädagogen
ausnahmsweise sogar mal einig mit den Ökonomen. Etliche Studien
belegen, dass Investitionen in Bildung sich umso mehr auszahlen, je
früher sie ansetzen. Laut IW zahlen Kinder jeden Euro, der in
frühkindliche Bildung gesteckt wird, später zurück – plus acht
Prozent Zinsen. Investitionen ins Schulsystem bringen dem Staat
dagegen nur drei Prozent Rendite.
Leider tut sich Politik mit Investitionen, die sich erst nach
Jahrzehnten rentieren, schwer. Wer das Geld ausgibt, fällt durch neue
Haushaltslöcher auf, die Früchte seiner Arbeit ernten seine
Nachfolger. Eine verpflichtende Vorschule wäre in der Tat teuer: Die
Kita müsste kostenfrei sein und bräuchte mehr, vor allem mehr
examinierte Erzieherinnen. Und was rät die Familienministerin?
Arbeitslose umschulen und in die Kitas schicken. Genauso gut könnte
sie den Kindern auch einfach viel Glück wünschen.
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