Neue OZ: Kommentar zu psychischen Erkrankungen

Vom Wert der Seele

Früher mussten die Leute hart im Nehmen sein. Sie schufteten,
machten Krieg und Gefangenschaft durch, thematisierten aber selten
ihr seelisches Leid. Angstzustände und Niedergeschlagenheit? Diese
Problematik galt – wenn sie überhaupt zur Sprache kam – als albernes
Zeug. Viele Menschen waren traumatisiert, aber sie verdrängten es.
Und vor allem hatten sie keinen Begriff dafür.

Heute ist gefühlt jedes dritte Kind hyperaktiv und mindestens die
Hälfte aller Erwachsenen fühlt sich regelmäßig innerlich ausgebrannt
und irgendwie leer. Die Kosten für die Behandlung psychischer
Erkrankungen steigen, immer mehr Deutsche bleiben wegen seelischer
Probleme zu Hause.

Was ist passiert? Bevölkern überzarte Mimosen das Land, die jedes
Stimmungstief zur Krankheit erklären, aber eigentlich bloß nichts
mehr aushalten können? Gibt es gar einen Trend zur Seelenpein?
Logischerweise tauchen psychische Erkrankungen heute öfter in den
Statistiken auf; sie werden ja auch medizinisch ernst genommen –
endlich. Sozial anerkannt sind sie aber noch lange nicht. Wer eine
Depression bekommt, gilt schnell als Sensibelchen.

Früher setzten vielleicht Knochenarbeit und rauere Lebensumstände
der Seele zu. Heute sind es wachsender Druck, Stress, ein rasendes
Lebenstempo, möglicherweise Angst um den Job. Das ist wohl nicht
schlimmer als früher – aber auch nicht einfacher.

Pressekontakt:
Neue Osnabrücker Zeitung
Redaktion

Telefon: 0541/310 207