Mittelbayerische Zeitung: Mittelbayerische Zeitung Regensburg, Kommentar Chodorkowski-Prozess

Immer wieder keimen im Westen Hoffnungen auf,
das postsowjetische Russland könnte doch noch die Kurve kriegen und
auf den Pfad demokratischer Tugenden einschwenken. Und immer wieder
werden diese Hoffnungen enttäuscht. Das Urteil im zweiten Prozess
gegen den einstigen Öl-Milliardär und Putin-Kritiker Michail
Chodorkowski ist ein weiterer trauriger Beleg dafür, dass Russland
noch Lichtjahre davon entfernt ist, ein demokratischer Rechtsstaat zu
sein. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das Mitleid mit dem
erneut schuldig gesprochenen früheren Oligarchen sollte sich in
Grenzen halten. Chodorkowski hat in den 90er-Jahren sehr wohl gegen
Gesetze verstoßen. Dass dies zu Boris Jelzins Chaos-Zeiten in
Russland gang und gäbe war, macht die Sache nicht besser. Deshalb hat
es auch einen schalen Beigeschmack, wenn sich Menschenrechtler im
Westen im Brustton der Überzeugung für den früheren Yukos-Boss in die
Bresche werfen. Fakt ist aber auch, dass Chodorkowski nach der Wahl
Wladimir Putins zum Präsidenten die Opposition unterstützte und für
ein sozialeres Russland kämpfte. Damit stellte er sich zu Beginn des
neuen Jahrtausends gegen den Kreml, der zu jener Zeit das
machiavellistische Machtprinzip wiederentdeckte. „Wer nicht für uns
ist, ist gegen uns“, lautet der Leitsatz, nach dem das von Putin
etablierte und von seinem Ziehsohn Dmitri Medwedew weiterhin
exekutierte politische System in Russland funktioniert. Die
Chodorkowski-Prozesse waren juristisch eine Farce. Sie waren deshalb
vor allem eines: Lehrstücke in Sachen „gelenkte Demokratie“.

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