Die Mutter, die mit ihrer Anzeige die Ermittlungen
zu den Missbrauchsfällen im nordrhein-westfälischen Lügde ausgelöst
hat, erhebt schwere Vorwürfe gegen Polizei und Jugendämter. Im
Interview mit NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung sagte sie: „Wenn sie
schon 2016 den Hinweisen nachgegangen wären, dann wäre meiner Tochter
nichts passiert.“
Die Behörden sind jedoch erst zwei Jahre nach den ersten
Verdachtsmomenten gegen Andreas V. und seine mutmaßlichen zwei
Mittäter vorgegangen – nachdem die Mutter am 20. Oktober 2018 eine
Anzeige gestellt hatte. Sie schildert im Interview, dass sich ihre
Tochter im Sommer vergangenen Jahres mit der Pflegetochter von
Andreas V. angefreundet habe. Später habe das Mädchen zweimal,
jeweils für mehrere Tage bei ihm und seiner Pflegetochter auf dem
Campingplatz übernachtet. Nach dem zweiten Mal habe ihre Tochter
gesagt, dass Andreas V. ihr Schlimmes angetan, ihr wehgetan habe.
„Natürlich, wenn man den Hinweisen 2016 nachgegangen wäre, wäre
sicherlich die ganze Geschichte völlig anders abgelaufen“, sagt auch
der jetzt für die Ermittlungen zuständige Detmolder Oberstaatsanwalt
Ralf Vetter. Er bezieht sich auf zwei Verdachtsmeldungen, die im
August und November 2016 eingegangen waren.
Im August 2016 schilderte eine Mitarbeiterin des
Kinderschutzbundes aus dem Kreis Hameln-Pyrmont einen möglichen
Kindesmissbrauch. Sie hat nach eigenen Angaben dem Hamelner Jugendamt
zunächst auf den Anrufbeantworter gesprochen und die Vorwürfe eines
Vaters von zwei Mädchen gegen Andreas V. geschildert haben. Dies geht
aus einem internen Vermerk hervor, den die Mitarbeiterin des
Kinderschutzbunds nach Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Andreas V.
angefertigt hat, und der NDR, WDR und SZ vorliegt. Andreas V. soll
demnach gegenüber dem Vater gesagt haben, „es sei so ein schönes
Gefühl, so einen warmen Körper im Nacken sitzen zu haben“.
Am nächsten Werktag, dem Montag darauf, meldete sich laut Vermerk
das Hamelner Jugendamt auf die Nachricht auf dem Anrufbeantworter
zurück. Die Meldung sei noch einmal genauestens geprüft worden.
Zugleich habe das Jugendamt versichert, sich darum zu kümmern.
Der für die Behörde zuständige Landrat von Hameln-Pyrmont, Tjark
Bartels, sagte im Interview mit NDR, WDR und SZ: „Wenn ein deutlicher
Hinweis, der auf sexuellen Missbrauch hindeutet, bei uns im Haus
vorgelegen hätte, dann hätten wir darauf reagiert.“
Der Kinderschutzbund hat damals nicht nur das Jugendamt, sondern
auch die Polizei informiert. Dies bestätigt unter anderem ein
interner Bericht des Innenministeriums in Nordrhein-Westfalen. Der
Polizist, der die Meldung entgegennahm, sprach anschließend noch mit
dem Vater der betroffenen zwei Mädchen, schrieb einen Vermerk über
die Gespräche und reichte ihn beim Jugendamt ein. Offenbar hat aber
der Polizist weder die zuständige Kriminalpolizei noch die
Staatsanwaltschaft informiert, obwohl dies die Regeln bei solchen
Verdachtsfällen vorschreiben. Den Vermerk über die Gespräche fanden
Ermittler nach einer Durchsuchung im Jugendamt im Dezember 2018.
Ein weiterer Hinweis auf einen sexuellen Missbrauch kam im
November 2016 von einer Mitarbeiterin des Jobcenters in Blomberg.
Aktiv wurden die Behörden jedoch erst Ende 2018, nachdem die Mutter
am 20. Oktober eine Anzeige gestellt hatte. Auch in diesem Fall
reagierten die Behörden nach Recherchen von NDR, WDR und SZ offenbar
langsam. Erst elf Tage nach der Anzeige der Mutter wurde die Tochter
vom Fachkommissariat Bad Pyrmont vernommen. Die Terminierung auf den
31. Oktober wird in der Akte mit „Terminschwierigkeiten“ begründet.
Trotz klarer Hinweise auf einen möglichen schweren Missbrauch der
beiden Kinder, vergingen erneut zwei Wochen, bis am 13. November 2018
das Jugendamt Lippe informiert wurde. Dieses nahm dann das Pflegekind
von Andreas V. sofort in Obhut. Der Beschuldigte wurde am 6. Dezember
2018 festgenommen und sitzt seitdem in Untersuchungshaft.
Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) sprach im
Interview erneut von klaren Fehlern der Behörden. „Unabhängig von den
Ermittlungen, die jetzt laufen und in die ich auch nicht eingreifen
darf und auch nicht will, ist offenkundig, dass bei den beteiligten
Behörden, bei den Jugendämtern und auch der Polizei, nicht alles
richtig gelaufen ist, um es vorsichtig zu formulieren“, sagte Reul.
Dies sei keine Vorverurteilung, sondern „einfach der Eindruck, den
man hat, wenn man alle Fakten auf sich wirken lässt“, so Reul. Ob es
auch strafrechtlich relevant sei, bleibe abzuwarten.
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