Korntal: Vor dem Abschluss des Aufarbeitungsprozesses kritisieren Opfer „mangelnde Transparenz“ und „unangemessen niedrige Anerkennungssummen“ / „Report Mainz“, 12.6.2018, 21.45 Uhr im Ersten

Unmittelbar vor dem Abschluss des
Aufarbeitungsprozesses der Missbrauchsvorfälle in der Evangelischen
Brüdergemeinde Korntal am 7.6.2018 kritisieren Opfer gegenüber
„Report Mainz“ „mangelnde Transparenz“, „nicht nachvollziehbare
Kriterien“ sowie „unangemessen niedrige Anerkennungssummen“. Ein
ehemaliges Heimkind erklärt: „Alle mir bekannten Betroffenen,
eingeschlossen ich, wurden retraumatisiert. Wir fühlten uns abermals
missbraucht, nicht gehört und ohnmächtig. Wir konnten keinen Willen
zu ehrlicher Aufarbeitung erkennen.“

Die ehemalige Jugendrichterin Dr. Brigitte Baums-Stammberger und
der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Benno Hafeneger (Universität
Marburg) hatten über 100 Fälle von „sexualisierter, körperlicher und
seelischer Gewalt“ an Kindern, die in Obhut der pietistischen
Gemeinde in Korntal aufwuchsen, untersucht. Das Ergebnis dieser
Untersuchung wird morgen (7.6.2018) in einer Pressekonferenz
vorgestellt.

Die Kritik der Opfer richtet sich gegen die Brüdergemeine und die
Auftragsgebergruppe (AGG), die die Aufarbeitung des
Missbrauchsskandals bei der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal
gesteuert hat. Dem ARD-Politikmagazin „Report Mainz“ liegen exklusiv
Sitzungsprotokolle der AGG aus dem Oktober 2017 vor, aus denen die
Vergabekriterien für die Anerkennungsleistungen der Opfer ersichtlich
werden. Demnach legte das Gremium fest, dass ausschließlich das
„immaterielle Leid“ der Opfer für die Höhe der Entschädigung
ausschlaggebend sein sollte. Der Begriff wird als das „direkt aus den
Taten erlittene Leid“ definiert. Nicht berücksichtigt werden sollten
dagegen Auswirkungen der schweren Gewalterfahrungen, die sich etwa in
„verpassten Berufs- und Lebenschancen“ niedergeschlagen hätten.

Der unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des
sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes Wilhelm Rörig, beobachtet den
Aufarbeitungsprozess in Korntal seit Längerem. Gegenüber „Report
Mainz“ sagte er: „Wir haben wiederholt wahrgenommen, dass es hier
immer wieder zu empfindlichen Störungen zwischen Betroffenen und der
Brüdergemeinde gekommen ist. Betroffene fühlten sich mehrfach nicht
ernst genommen, vermissten Gespräche auf Augenhöhe und persönliche
Wertschätzung.“

Auch das ehemalige Heimkind Detlev Zander beschreibt in einem
aktuellen Interview mit „Report Mainz“ seine Erfahrungen mit der
Evangelischen Brüdergemeinde als „demütigend–. Über seine Kindheit in
Korntal berichtet er: Er habe von seinem vierten bis zu seinem
vierzehnten Lebensjahr schwerste sexuelle Gewalt erleben müssen. Vier
verschiedene Täter hätten ihn vergewaltigt, zwei von ihnen
regelmäßig. Der Hausmeister der Einrichtung habe ihn sogar mehrmals
am Tag aus der Schule geholt, in den Fahrradkeller des Heimes
gezerrt, auf der dort vorliegenden Werkbank festgebunden und mit
Schraubenziehern sexuell gefoltert. Detlev Zander hatte die
systematische Gewalt und den sexuellen Missbrauch von Heimkindern in
Korntal 2013 an die Öffentlichkeit getragen. Auch er kritisiert die
Aufarbeitung scharf.

Die Evangelische Brüdergemeinde hatte vor wenigen Wochen erklärt,
dass die ersten Anerkennungsleistungen an betroffene Heimkinder
gezahlt worden seien. Die Anerkennungssummen bewegen sich demnach
zwischen „unter 5000 EUR und 20.000 EUR“. Die Kriterien für die
Entscheidung über die Höhe der Summe gab die Brüdergemeinde nicht
bekannt. „Report Mainz“ liegen Bescheide über Anerkennungsleistungen
vor. Darin erklärt die Gemeinde, dass die Entscheidungen nicht
anfechtbar seien. In einem Begleitbrief entschuldigt sich die
Brüdergemeinde und schreibt, „damals ist Kindern in unseren
Einrichtungen schweres Unrecht und Leid zugefügt worden“.

Zum Hintergrund: Im Mai 2017 berichtete „Report Mainz“ erstmals
von einem System der Gewalt in Heimen der Evangelischen
Brüdergemeinde. Zwei Betroffene erzählten exklusiv von schwerem
sexuellen Missbrauch bis hin zu Vergewaltigungen, dem sie immer
wieder durch Mitarbeiter der Kinderheime ausgesetzt gewesen sein
sollen. Darüber hinaus habe die Brüdergemeinde sie an Wochenenden an
so genannte Patenfamilien abgegeben, wo sie ebenfalls sexuell
missbraucht worden sein sollen. Der weltliche Vorsteher der
Evangelischen Brüdergemeinde, Klaus Andersen, sagte damals gegenüber
„Report Mainz“: „Das bedauern wir sehr. Und ich weiß, dass damals
auch die Mitarbeiter, trotz alledem, mit viel Herzblut und Engagement
ihre Arbeit getan haben.“

Zitate gegen Quellenangabe frei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an „Report Mainz“, Tel. 06131 929
33351 oder -33352.

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