Die übersehene Katastrophe
Von Alexander Marinos
In Sachen Spendenbereitschaft gehören die Deutschen zur
Weltspitze. Das war Weihnachten 2004 so, als der Tsunami im Indischen
Ozean Hunderttausende tötete, und das war zu Jahresbeginn so, als ein
fürchterliches Erdbeben Haiti verwüstete. 200 Millionen Euro
spendeten die Deutschen innerhalb kurzer Zeit für die Überlebenden in
dem Karibikstaat. Und jetzt? Die Fluten in Pakistan haben 20
Millionen Menschen obdachlos gemacht. Die Vereinten Nationen sprechen
von einer beispiellosen humanitären Katastrophe. Doch aus Deutschland
kommt bislang nicht einmal ein Hundertstel jener Spenden, die für
Haiti bereitgestellt wurden. Wie ist das zu erklären? Offensichtlich
kommen mehrere Faktoren zusammen. Pakistan ist weit weg, räumlich und
emotional. Wir kennen es nur als Problemland: Die Regierung ist
autoritär, das Militär brutal; die Anfeindungen mit Indien nehmen
kein Ende; das Staatswesen ist labil, Terroristen finden hier leicht
Unterschlupf; es besteht die latente Gefahr, dass die Atombomben
Pakistans in falsche Hände geraten; zudem haben in vielen Regionen
die Taliban das Sagen. Wenn hier noch eine Naturkatastrophe
dazukommt, dann wirkt das auf uns weniger dramatisch, als wenn ein
sonst harmloser Sommer-Sonne-Strand-Staat betroffen ist. Hinzu kommt,
dass die Katastrophe in Pakistan – im Gegensatz zu einem Erdbeben
oder einem Tsunami – eher schleichend daherkam und bislang nicht so
medienwirksam viele Todesopfer forderte. Außerdem stand und steht sie
in Konkurrenz zu anderen dramatischen Ereignissen: der Ölpest im Golf
von Mexiko, den Waldbränden in Russland und nicht zuletzt zu den
Fluten im Osten Deutschlands, die uns im Wortsinne einfach näher
sind. Manche Menschen sind schlicht überfordert, wenn die
15-Minuten-Tagesschau 13 Minuten lang nur Katastrophenbilder sendet.
Wir alle werden dadurch desensibilisiert. Eine fatale Entwicklung!
Auch in den meisten Medien erreicht Pakistan derzeit nicht die
Aufmerksamkeit, die es eigentlich verdient hätte. Die großen
Fernseh-Spendengalas, im Falle Haitis noch eine
Selbstverständlichkeit, bleiben aus. Wer nun aber allzu schnell über
die Medien schimpft, der blicke einmal ins Internet und prüfe, wie
Facebook oder Twitter Pakistan behandeln – jene sozialen Netzwerke
also, die allein durch ihre Nutzer bestimmt werden. Das Thema spielt
auch dort nur eine untergeordnete Rolle. Es wird Zeit, dass wir
unsere Sinne schärfen für die wirklich wichtigen Dinge auf der Welt.
Die Medien müssen verstärkt berichten, und die Mediennutzer sollten
vermehrt hinsehen. Und bei wem Mildtätigkeit im Einzelfall keine
ausreichende Motivation darstellt, der denke noch einmal an das
Atomwaffenarsenal Pakistans. Schon aus egoistischen Erwägungen heraus
sollte jeder von uns ein Interesse daran haben, dass dort nicht auch
jeder Rest von Stabilität in den Fluten untergeht.
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Alexander Marinos
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