Ethikrat legt Stellungnahme zur Bewertung von Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen vor

Unter dem Titel „Nutzen und Kosten im
Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung“ hat der
Deutsche Ethikrat heute seine dritte Stellungnahme verabschiedet.

Der Deutsche Ethikrat will anlässlich der aktuellen
gesetzgeberischen Debatte im Kontext des Gesetzes zur Neuordnung des
Arzneimittelmarktes (AMNOG) sowie dem geplanten Versorgungsgesetz mit
seiner Stellungnahme dazu beitragen, die schwierigen Fragen der
Verteilungsgerechtigkeit am Beispiel ethisch umstrittener
gesundheitsökonomischer Bewertungsmethoden in den Blick von Politik
und Öffentlichkeit zu bringen.

Die Festlegung von Kriterien für eine gerechte
Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen ist eine politische Aufgabe
mit einer medizinischen, ökonomischen, ethischen und juristischen
Dimension. Die Komplexität der Fragestellung macht es allerdings
äußerst schwierig, einen Konsens zwischen allen Beteiligten
herzustellen. Dennoch ist der Deutsche Ethikrat der Ansicht, dass
sich Grundsätze formulieren lassen, an denen sich existierende
Strukturen und Prozesse messen lassen müssen.

Der Ethikrat hält es für dringend erforderlich, Priorisierung,
Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen offen zu
thematisieren. Jede Form einer „verdeckten Rationierung“
medizinischer Leistungen ist abzulehnen. Notwendige
Rationierungsentscheidungen dürfen nicht an den einzelnen Arzt oder
die einzelne Pflegekraft delegiert werden. Dabei bedeutet das
Sicheinlassen auf das Problem der Verteilung knapper Ressourcen im
Gesundheitswesen keine Festlegung auf eine „Ökonomisierung“ von
Entscheidungen. Eine sachliche Debatte erfordert vielmehr die
Einbeziehung medizinischer, ökonomischer, ethischer und juristischer
Expertise in ein transparentes Verfahren. Letztlich sind
Entscheidungen über den Umfang solidarisch finanzierter Leistungen
ethische Entscheidungen, die im gesellschaftlichen Diskurs und auf
politischem Wege getroffen werden müssen.

Ausgangspunkt jeglicher Entscheidungen sind das Prinzip der
Menschenwürde und die Grundrechte, die einen durch Rechte gesicherten
Zugang jedes Bürgers zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung
erfordern. Diese Rechte dürfen nicht hinter etwaige Erwägungen zur
Steigerung des kollektiven Nutzens zurückgestellt werden. Auch darf
der errechnete oder vermutete sozio-ökonomische „Wert“ von Individuen
oder Gruppen nicht Grundlage von Verteilungsentscheidungen sein.

Davon ausgehend formuliert der Deutsche Ethikrat 12 Empfehlungen,
die von den Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen bei der
Gestaltung von gesetzlichen Regelungen beachtet werden sollten, um
eine bestmögliche und gleichzeitig gerechte Verwendung der Mittel für
das Gesundheitswesen zu erreichen.

Der verantwortliche Einsatz knapper Ressourcen erfordert es, sie
für Maßnahmen einzusetzen, die unter den alltäglichen
Versorgungsbedingungen tatsächlich einen Nutzen erbringen. Neben der
frühen Nutzenbewertung zur Preisfestlegung muss eine ausführliche
Nutzenbewertung unabhängig von Kostenerwägungen vor allem in Bezug
auf die patientenrelevanten Endpunkte (Mortalität, Morbidität,
Lebensqualität) durch den G-BA und das IQWiG weiterhin jederzeit
möglich sein. Für wichtige Indikationsbereiche sollte eine
systematische zweite Stufe der Nutzenbewertung nach einem
angemessenen Zeitraum regelhaft eingeführt werden, nicht nur für
Arzneimittel, sondern auch für nichtmedikamentöse
Behandlungsverfahren. Ein Leistungsausschluss wegen fehlenden Nutzens
muss aus Gründen des Patientenschutzes möglich sein.

Der Ethikrat empfiehlt, die Transfer- und die Versorgungsforschung
auszubauen, ebenso die vom Hersteller unabhängige Förderung
versorgungsnaher klinischer Studien nach Zulassung eines Medikaments
oder Medizinprodukts. Dies ist zu verbinden mit einer systematischen
Identifikation besonders relevanter Forschungsfragen für die
medizinische Versorgung zum Beispiel durch den G-BA. Dazu hat der
Gesetzgeber geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen.

Es ist eine Publikationspflicht für alle Studien anzustreben,
unabhängig von ihrem Ergebnis, und nicht nur für die
zulassungsrelevanten konfirmatorischen Studien sowie für die
klinischen Prüfungen nach Zulassung. Nur so ist der Zugang zu allen
für die Nutzenbewertung relevanten Daten zu gewährleisten.

Im Kontext der Kosten-Nutzen-Bewertung medizinischer Leistungen
gibt es aus ethischer und gerechtigkeitstheoretischer Sicht
gewichtige Gründe dafür, nicht das Prinzip einer
patientengruppen-übergreifenden Nutzenmaximierung zu verfolgen.
Deshalb sollte der Gesetzgeber § 35b SGB V (Bewertung des
Kosten-Nutzen-Verhältnisses von Arzneimitteln) entsprechend
klarstellen. Aber auch die Kosteneffektivitätsberechnungen nach einem
Effizienzgrenzenkonzept können nicht ethisch „neutral“ als Maßstab
der Angemessenheit von Erstattungsentscheidungen für Innovationen
dienen. Denn die Kosteneffektivität der jeweils nützlichsten
etablierten Therapie im jeweiligen Indikationsgebiet, also der Status
quo, beruht auf vielfältigen, zuweilen nicht aufeinander abgestimmten
Faktoren. Der Gesetzgeber hat mit dem Hinweis auf die
Berücksichtigung der internationalen Standards der
Gesundheitsökonomie (§ 35b Abs. 1 S. 5 SGB V) keine ausreichend
klaren Vorgaben gemacht.

Die Auswirkungen der aktuellen Vorgaben zur
Kosten-Nutzen-Bewertung in Deutschland sind zurzeit wegen des
rechtlich unveränderten Anspruchs der Versicherten auf Versorgung mit
allem medizinisch Notwendigen im Wesentlichen unschädlich. Sie dienen
derzeit nicht als Instrument zur Verteilung knapper Ressourcen,
sondern zur Preisfestsetzung. Die in Zukunft zu erwartende
Notwendigkeit von Rationierungsentscheidungen wird den Gesetzgeber
aber zwingen zu klären, in welchem Umfang Leistungsansprüche nach §
27 und § 12 SGB V von einer Kosten-Nutzen-Bewertung beeinflusst
werden dürfen und in welchem Verhältnis sich diese zum Kriterium der
medizinischen Notwendigkeit verhält.

Die Stellungnahme ist unter http://www.ethikrat.org abrufbar.

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Ulrike Florian
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