Berlin/ Suleymaniah den 20.01.2011. Die deutschen, kurdischen und arabischen Mitarbeiter von WADI gratulieren: Wir freuen uns mit den Menschen Tunesiens über den historischen Sieg, den sie errungen haben – darüber, dass der Mut der Menschen stärker war als die Angst, die der Polizeiapparat des Regimes verbreitet; und darüber, dass zum ersten Mal in der leidvollen Geschichte der Region ein Diktator durch den demokratischen Protest der Bürger gestürzt wurde. Wir freuen uns auch, weil dies ein Signal sein könnte – und sollte! – und der Anfang vom Ende der Diktaturen der Region. Die Regimes des Magreb und des Mashrig, des nördlichen Afrikas und des Vorderen Orients, unterdrücken die Freiheit und schneiden ihre Bevölkerungen von jeder Entwicklung ab, die sie unabhängiger und freier macht. Die Menschen Tunesiens lassen sich das nicht mehr länger gefallen.
Diesen Mut und den Freiheitswillen der Tunesier gilt es zu fördern – und nicht die schnellstmögliche »Normalisierung«. Und es gilt, den vielen Worten vom Menschenrechtsauftrag der deutschen Außenpolitik Taten folgen zu lassen. Dies könnte geschehen, indem der tunesischen Gesellschaft geholfen wird, sich eine neue, parlamentarische und demokratische Verfassung zu geben.
Seit mehr als 20 Jahren arbeiten wir in den Gesellschaften des Nahen Ostens und begleiten einen Umbruchsprozess, der sich unter der Oberfläche monolithischer Diktaturen mehr und mehr bemerkbar macht. Aus dieser Arbeit wissen wir um den starken Wunsch der Menschen nach Freiheit und politischer Partizipation. Dies ist nur möglich durch eine Stärkung des Parlaments und der unabhängigen Presse. Fast alle Länder der Region leiden unter Verfassungen, die den jeweils herrschenden Präsidenten de facto diktatorische Vollmachten geben. Demokratisierung ist vor diesem Hintergrund mit der Stärkung »zivilgesellschaftlicher Strukturen« unter Wahrung der autokratischen Herrschaft nicht zu haben. Wer es ernst meint mit der Freiheit der Menschen in Tunesien, der muss sie dabei unterstützen, die autokratische Herrschaft abzuschaffen und eine wirkliche parlamentarische Demokratie zu schaffen.
Nicht baldige Neuwahlen eines Präsidenten sind deshalb in Tunesien das Gebot der Stunde, sondern die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die, wie auch im Irak im Jahre 2005, dann der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden soll. Hier sehen wir eine große Verantwortung gerade für die deutsche Außenpolitik. Noch in der allerjüngsten Vergangenheit wurde auch von Berlin aus das diktatorische Regime Ben Alis weitgehend gestützt. Mit dem Argument es garantiere Stabilität und Sicherheit, kooperierte man mit einem Regime, das keinerlei Freiheiten zuließ, seine Bevölkerung unterdrückte und Menschenrechte mit Füßen trat. Und bisher hatten weder die EU noch die Bundesrepublik konkrete Vorschläge parat, wie bei der Transformation Tunesiens hin zu einer Demokratie geholfen werden könne.
Es wäre ein wichtiges Signal, wenn die Bundesregierung den Tunesiern jetzt ihre Hilfe anböte – statt dem Geschehen ratlos zuzuschauen und auf eine baldige Rückkehr zu gewohnten Verhältnissen zu hoffen. Die Bundesrepublik könnte den Tunesiern konkrete Hilfe bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung parlamentarisch–föderalen Typs anbieten. Föderalismus wäre ein beispielhafter Weg in die Zukunft der Region – nicht nur für Tunesien. Das rein formale Beharren auf einer schnellen Wahl bei gleichbleibenden, tendenziell autoritären Präsidialverfassungen, wäre indessen der falsche Weg. Demokratisierung in Ländern, die jahrzehntelang unter repressiven Regimes gelitten haben braucht einen langen Atem.
Die Forderung nach einer grundlegenden Verfassungsänderung wird auch auf den Straßen Tunesiens immer lauter. Man sollte sie ernst nehmen. Die Tunesier brauchen jetzt unsere Unterstützung, um die begonnene Jasmin Revolution zu einem erfolgreichen Ende zu bringen.
In der ganzen Region verfolgen die Menschen die Ereignisse. Überall kommt es zu Protesten und Demonstrationen. Weder die EU noch Deutschland werden irgendwo als Partner gesehen – denn überall erhalten die diktatorische Regierungen, und die nicht die um Freiheit kämpfenden Menschen Unterstützung.
Dies muss sich ändern. Deshalb fordern wir von der Bundesregierung, sich deutlich für die demokratischen Bestrebungen in der ganzen Region stark zu machen.