BERLINER MORGENPOST: Kommentar zur Protestwelle in der arabischen Welt

Es weht ein Hauch von 1989 durch den Nahen Osten.
Die Tunesier haben ihren Unterdrücker vertrieben und suchen nun nach
einem Weg zwischen Umsturz und Erneuerung, der das Land nachhaltig in
die Demokratie führt. Und am Dienstag haben die Ägypter so zahlreich
wie seit Jahrzehnten nicht mehr ihrem Unmut über die gerontokratische
Diktatur von Husni Mubarak Ausdruck verliehen. „Ich wusste gar nicht,
dass es noch mutige Ägypter gibt“, sagte einer der Demonstranten
erstaunt. Auch wenn bisher wenig Ägypter daran glauben, Mubarak
wirklich loswerden zu können, so wird das vordem Undenbare inzwischen
doch zumindest vorstellbar. Auch das ist schon ein kleiner Anfang. In
vielen Ländern der Region beginnt sich inzwischen der Protest zu
regen. Zwar halten viele Experten die zementierten
Sicherheitsapparate etwa von Ägypten oder Syrien für unüberwindbar.
Aber Ähnliches hörte man Ende der 80er-Jahre auch von westlichen
Ostblockkennern (und bis vor kurzem auch von vielen
Tunesienexperten). Kaum einer hatte damals gesehen, wie marode diese
Regime im Innern wirklich waren. Und wie leicht sie fallen konnten,
wenn die Bürger nur zahlreich genug ihre Angst zu überwinden lernten.
In Wahrheit kann niemand verlässlich sagen, ob der Nahe Osten gerade
einen revolutionären Moment erlebt. Eines lässt sich aber mit
Gewissheit feststellen: Die Menschen in der Region haben dieselben
Bedürfnisse wie anderswo auch. Sie wollen von ihrer Arbeit leben
können, sie wollen nicht fürchten müssen, von Sicherheitskräften
willkürlich zusammengeschlagen oder erpresst zu werden. Sie fordern
Respekt und Menschenwürde ein. Sie verabscheuen die Korruption der
Herrscherkasten, die das Land aussaugen. Und sie wollen politische
Teilhabe, damit über das Schicksal ihrer Kinder nicht nur eine kleine
Gruppe von Oligarchen entscheidet. In den vergangenen Jahren ist
diese Region vor allem durch ihre Radikalen aufgefallen, deren
Anschläge und Hassausbrüche im Westen Furcht vor dem auslösten, was
auf die autoritären Regime folgen könnte, wenn sie einmal fallen
sollten. Nun jedoch artikulieren sich auch all die anderen Araber,
die ihr Heil nicht in Revolutionen nach iranischem Vorbild suchen.
Sondern die endlich die Sonderstellung der arabischen Welt überwinden
möchten. Seit dem Mauerfall hat sich keine Region so resistent
gezeigt gegen den demokratischen Wandel wie diese. Keine hat
politisch, kulturell und gesellschaftlich so stagniert. Was wir aber
gerade erleben, ist nicht die gefürchtete „arabische Straße“, sondern
Menschen wie du und ich, die nicht einsehen, warum ihre Diktatoren
ihnen ihr Recht auf „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“, wie
es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung so treffend heißt,
verwehren. Welchen Erfolg diese Bestrebungen haben werden, ist offen.
Die Bedingungen für eine positive Entwicklung sind in Tunesien sicher
besser als etwa in Ägypten. Aber wer den Ausgang aus der Unmündigkeit
hin zu Freiheit und Demokratie sucht, verdient in jedem Fall unseren
Respekt – und unsere Unterstützung.

Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST

Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de