BERLINER MORGENPOST: Der Schutzanspruch der Bürger hat Grenzen – Leitartikel

Die Richter am Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg haben der Berliner Koalition den nächsten
veritablen Streit beschert. Doch mit ihrem Urteil zur
Sicherungsverwahrung von Schwerstkriminellen haben sie nicht allein
bei den Rechtspolitikern heftige Diskussionen ausgelöst. Besonders
hoch her geht es an Deutschlands Stammtischen. Dort herrscht
Unverständnis darüber, dass das Recht auf Freiheit für rechtswidrig
in verlängerte Haft genommene Verbrecher mehr wiegt als der Schutz
der Bürger vor ihnen. So verständlich Aufregung und Emotion, so
dringlich die Mahnung vor neuen populistischen juristischen
Schnellschüssen. Die Forderung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard
Schröder, gefährliche Sexualstraftäter gehörten „weggesperrt – und
zwar für immer“, wie ein 1998 erlassenes entsprechendes Gesetz
sprechen noch heute den meisten Menschen aus der Seele, halten aber
den Prinzipien eines Rechtsstaats nicht stand. Das Gesetz nämlich, so
befanden die Straßburger Richter, verstoße gegen ein zentrales
Rechtsstaatsprinzip. Danach darf eine Strafe aufgrund einer
Gesetzesänderung nicht nachträglich verschärft werden. Weil bis 1998
die Dauer der Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre begrenzt war,
müssen Schwerstkriminelle entlassen werden, die vor 1998 verurteilt
und deren Verwahrung nachträglich verlängert wurde. Jetzt steht der
Staat vor dem Dilemma, dem europäischen Urteil Folge leisten zu
müssen, andererseits seiner Pflicht zum bestmöglichen Schutz der
Bürger nachzukommen. Dabei geht es vorrangig darum, die Bevölkerung
vor zwangsweise entlassenen Sexualstraftätern zu bewahren. Die
Möglichkeiten dazu scheinen eher begrenzt. Elektronische
Ortungsfußfesseln sind nur bedingt brauchbar, weil durch sie neue
Verbrechen kaum zu verhindern sind. Sie erleichtern allenfalls deren
Aufklärung. Die Alternative, eine polizeiliche
Rund-um-die-Uhr-Überwachung, verspricht weit mehr Erfolg, wird aber
durch zwei Bedenken infrage gestellt. Rund 100 zur Entlassung
anstehende unbelehrbare Verbrecher mit unverändert höchstem
Gefährdungspotenzial zu überwachen erfordert einen Personalaufwand,
der nur möglich sein wird, wenn andere polizeiliche Aufgaben in
unverantwortlicher Weise vernachlässigt werden. Außerdem ist
juristisch zumindest schon wieder umstritten, ob eine
Totalpolizeiüberwachung eines entlassenen Häftlings überhaupt legal
ist. Nicht nur das Leben generell steckt voller Risiken. Auch ein
Rechtsstaat kann keinen totalen Schutz gewähren. Es widerspräche ihm
sogar. Weil in einer Demokratie, die immer auf Rechtsstaatlichkeit
basiert, stets zwischen individuellem Freiheitsrecht und Schutz für
jedermann abzuwägen ist. Das ist oft schwer zu ertragen. Aber wir
müssen damit leben. Denn was immer die Politiker versprechen – lösen
können auch sie das Problem nicht. Sie können es allenfalls
entschärfen.

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