In Deutschland macht sich ein schleichender
gesellschaftspolitischer Wandel breit. Bei Weitem noch nicht so
fundamental wie in den 70er-Jahren, aber doch nicht zu überhören,
werden die Werte und Prozesse, auf denen unsere freiheitliche Ordnung
gründet, zunehmend hinterfragt. Dabei zeichnet sich ein bedeutsamer
Unterschied gegenüber Protest und Rebellion von einst ab. Waren es
vor 40 Jahren vor allem Studenten und Intellektuelle, die das
herrschende System herausforderten, sind es heute auch breite
bürgerliche Schichten, die auf die Straße gehen. Die Menschen lassen
sich nicht mehr alles gefallen, was Regierungen und Parteien zum
vermeintlichen Wohl des Volkes tun. Unter dem Stichwort
Politikverdrossenheit haben sich Politiker und Bürger immer weiter
entfremdet. Doch aus Resignation wird zunehmend aktiver Protest quer
durch alle Gesellschaftsschichten. Wer hätte sich vorstellen können,
dass ausgerechnet das hanseatische Bürgertum Hamburgs eine
bürgerliche Regierung in ihre Schranken weist und sie per
Volksentscheid zur Rücknahme einer verhassten Schulreform zwingt?
Oder wer hätte daran gedacht, dass Zehntausende Schwaben im doch eher
behäbig beschaulichen Ländle so vehement gegen den Neubau und Umbau
des Stuttgarter Hauptbahnhofs kämpfen? In unserer repräsentativen
Demokratie werden die Politiker für jeweils eine Legislaturperiode
auf Zeit gewählt. Aber das darf nicht als Freibrief missverstanden
werden, dieses Mandat an den Interessen der Bürger vorbei auszuüben.
Bürgernähe ist nicht erst in Wahlkampfzeiten wieder zu entdecken.
Bürgernähe müssen die Parteien endlich als permanenten Auftrag
verstehen. Das gilt vor allem in den Bereichen, in denen die Menschen
direkt betroffen sind wie im Schulbereich oder bei Großbauten in
ihrem direkten Umfeld. Politiker verkennen die Zeichen einer sich
verändernden Zeit, wenn sie meinen, Proteste quer durch alle
Gesellschaftsschichten wegen ihrer vermeintlich höheren Einsicht
ignorieren zu können. In welchem Wertewandel sich das Land befindet,
hat gerade eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aufgezeigt. Danach
fordern neun von zehn Bundesbürgern eine neue Wirtschaftsordnung, in
der der Umweltschutz einen höheren Stellenwert als bisher hat und die
einen gerechteren sozialen Ausgleich in der Gesellschaft anstrebt. In
Berlin, der Stadt ohne breites Bürgertum, haben Volksentscheide
jüngst einen allenfalls mäßigen Erfolg gehabt. Dennoch ist
bemerkenswert, mit welcher Arroganz der Senat bereit gewesen wäre
(Tempelhof) und noch immer ist (Mediaspree), ein unliebsames
Bürgervotum zu ignorieren. Sollte auch die gerade mit erheblichen
Problemen gestartete nächste Schulreform wieder zum Flop werden, dann
allerdings könnte auch die Geduld der Berliner Eltern am Ende sein.
Auch für den hiesigen Senat gilt: Unterschätze nicht den neuen Mut
der Bürger, sich zu wehren.
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