BERLINER MORGENPOST: BERLINER MORGENPOST: Zu den geheimen Pentagon-Papieren und Wikileaks

Was wissen wir? Oder noch wichtiger: Was wollen wir
eigentlich wirklich wissen? Wir wissen, dass in Afghanistan Krieg
geführt wird. Das bedeutet, Menschen mit Waffen schießen auf Menschen
mit Waffen – und töten sie. Wollen wir das wissen? Wir wissen, dieser
Krieg ist ein Guerilla-Krieg. Das heißt, Zivilisten und Kombattanten
sind kaum unterscheidbar, sollen es aus Sicht des „Feindes“, der
Taliban, auch gar nicht sein. Also sterben Zivilisten. Getötet auch
von Soldaten unserer Allianz. Wollen wir das wissen? Wir wissen: Ein
solcher Guerilla-Krieg ist militärisch kaum zu gewinnen. Schon gar
nicht in Afghanistan. Engländer, Sowjets – keiner hat das geschafft.
Unsere Soldaten werden wahrscheinlich scheitern, unsere Politiker
vielleicht. Wollen wir das wissen? Die Dokumente, die nun vom
Internet-Enthüller Wikileaks veröffentlicht wurden, belegen all das,
was wir im Grunde bereits wissen. Viel wichtiger ist deshalb, wie
schonungslos sie offenlegen, dass wir all das in einem politischen
Sinne systematisch seit beinahe zehn Jahren in Wahrheit gar nicht
wissen wollen. Der Diskurs um den militärischen Einsatz am Hindukusch
wurde von den politisch Verantwortlichen systematisch weichgespült
durch Geschichten vom Schulenbauen, Mädchen-in-die-Bildung-retten und
Drogenfelder-Roden. Und das hat erschreckend gut funktioniert.
Eingehegt in eine militärisch unrealistische
„Krieg-Gegen-den-Terror-Rhethorik“ nach dem 11. September.
Brandbeschleunigt durch eine hollywoodverbrämte Fantasie vom
modernen, antiseptischen High-Tech-Krieg. In dem Drohnen als
fliegende Waffen die Arbeit machen und grünstichige Medien-Bilder von
Nachtsichtgeräten die Wahrnehmung von dem ablenken, was Krieg
bedeutet: blutende Wunden auf beiden Seiten – und Tote im Staub eines
fernen Landes. Man kann das alles wollen. Es gibt zweifellos sehr
wichtige, wenn auch komplexe politische Gründe für diesen Krieg.
Bündnis-Raison innerhalb der Nato, Geopolitik zwischen Indien,
Kaukasus und Pakistan. Aber die Lebenslüge vom humanitären
Beglückungseinsatz belastet nicht nur unseren politischen Diskurs,
dem nicht zuletzt ein absurd unzureichendes Bundestagsmandat für den
Einsatz entsprang. Sie belastet vor allem auf unerträgliche Weise all
jene jungen Männer und Frauen, die diesen Krieg führen müssen. Denn
sie haben von Beginn an eine realitätsferne Erwartungshaltung aus der
Heimat im Nacken, die sie auf einem veritablen Schlachtfeld allein
lässt, sobald die Lüge vom THW-Einsatz offensichtlich wird.
Afghanistan galt als „guter“ Krieg, der Irak-Krieg als schlechter.
Historisch scheint sich das gerade umzudrehen. Der Gute wird zum
Desaster. Er hätte möglicherweise nie gestartet werden dürfen. Das
Problem ist nur, dieser Krieg muss jetzt eben doch gewonnen werden.
Dazu gehört, konsequent hinter den Soldaten zu stehen. Und zwar in
vollem Bewusstsein der Tatsache, was Kriegführen bedeutet. Und es
bedeutet vor allem, die politischen Hausaufgaben zu erledigen und dem
„failing state“ Afghanistan, dessen Schicksal wir an uns gerissen
haben, wirtschaftlich massiv zu helfen. Damit das gelingt, müssen wir
die Wahrheit endlich wissen wollen. Die Wikileaks-Dokumente können
dabei helfen.

Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de